Einführung

Andreas Gefeller
"Supervisions"

Abschrift der
Einführung von Christian Thöner
zur Eröffnung der Ausstellung am 13. April 2008

Sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Mitglieder und Freunde des Kunstvereins,

es freut mich, dass Sie unserer Einladung gefolgt und heute ins Holbeinhaus gekommen sind. Auch diesmal lohnt es sich. Denn wir laden Sie heute zu einem Freiflug ein. Fliegen sie über öffentliche Plätze oder Flächen. Mehr noch: Fühlen sie sich einmal wie Gott. Blicken Sie in Gebäude, in Wohnungen. Oder besser gesagt: Überblicken Sie diese. Denn hier wurden sogar - als handele es sich um Puppenhäuser - die Decken ganzer Wohnblöcke für Sie abgenommen.

Derjenige, der Ihnen diese "Supervisions" ermöglicht, ist heute persönlich zu Gast im Holbeinhaus: Herzlich willkommen Andreas Gefeller!

Andreas Gefeller wurde zwar in 1970 Düsseldorf, wo er heute noch lebt. 1992 begann er sein Fotografiestudium aber an der Universität in Essen, an der er im Jahr 2000 sein Diplom mit Auszeichnung bei Prof. Bernhard Prinz absolvierte. Bereits ein Jahr später wurde er an die Deutsche Fotografische Akademie in Leinfelden berufen und erhielt den renommierten Hamburger Reinhart-Wolf-Preis. Zahlreiche weitere Foto- und Kunstpreise blieben nicht aus. Zuletzt wurde Andreas Gefeller für den rennomierten Real Photography Award 2007/2008 in Amsterdam nominiert.

Auf den ersten Blick nehmen sich die Arbeiten von Andreas Gefeller aus wie Luftaufnahmen. Der Blick von oben auf die Welt ist uns mittlerweile ja irgendwie vertraut. Spätestens seit der Einführung von "Google Earth" stehen Satellitenbilder weltweit für jedermann abrufbar im Netz. "Web-sei-Dank" ist der Globus für uns auf Notebook-Format geschrumpft. In Sekundenschnelle zoomen wir uns an nahezu jeden erdenklichen Ort.
Kaum anders scheint Gefeller vorzugehen, wenn er sich immer näher an die Oberfläche der von ihm fotografisch eingefangenen urbanen Flächen herantastet. So lange, bis neben der großen Struktur auch Details sichtbar werden.

Harmonisch ausgewogen wirken seine Arbeiten. Übersichtlich in ihrer Struktur. Betörend klar in der Komposition. Manche Ansichten scheinen die vorgefundenen Örtlichkeiten auf fast abstrakt anmutende Farb- und Formmuster zu reduzieren. Insbesondere bei der Betrachtung mit weiterem Abstand. Geben wir diese Distanz auf, erlauben uns Gefellers Fotografien tiefere Einblicke, geben eine Menge Details preis. Gestochen scharf. In einer Präzision aufs Bild gebannt, die ein Spionagesatellit nie leisten könnte. Der eingehende Blick aus der Nähe offenbart aber auch, was den eben gewonnenen vermeintlichen Überblick kräftig auf den Kopf stellt: kleine optische Sprünge, Haarrisse, Versatze von Flächen, die - wie etwa in "Holocaustmahnmal" (2006) - von ihrer gebauten oder gewachsenen Beschaffenheit her bündig oder geschlossen sein müssten. Perspektiven, die so niemals sein könnten.  

Diesen Fehlern und bildlogischen Brüchen entspringt ebenso eine nachhaltige Irritation der Wahrnehmung, wie eine Verunsicherung der so sicher identifizierbar geglaubten Betrachterposition.

Was sehen wir hier wirklich?

Andreas Gefeller täuscht uns - mit Vorsatz:

Was wir als Gesamtbild präsentiert bekommen, ist das Konstrukt aus Hunderten einzelnen Aufnahmen. Mit einer lotrecht auf den Boden gerichteten Kamera, die er mit einem Stativ so an seinem Körper befestigt, dass Sie sich in etwa zwei Meter Höhe befindet, "scannt" Gefeller eine Fläche Stück für Stück. Er tastet das vorher abgesteckte Motivfeld buchstäblich Schritt für Schritt ab, als sei es ein Tatort. Auf diese Weise erfasst er den vorgefundenen Bestand systematisch. Bis zu 2500 Einzelaufnahmen entstehen so je Motiv - gewissermaßen als  Motivfragmente, die er schließlich wie in einem Puzzle digital zusammensetzt: zu einem Gesamtbild des Überblicks, zu einer Supervision.

Entpuppt sich schon hier der versprochene Freiflug, eigentlich als Fahrt mit dem Kettenkarussell?

Keineswegs, hoffe ich. Denn das Auge des Betrachters lässt sich durch diese sorgfältige Montage gerne verführen und konstruiert schließlich einen Kamerastand bzw. -flugort in großer Höhe, den es so nie gegeben hat. Dadurch bekommt er ebenso verwirrende wie faszinierende Aufsichten - und Einblicke in geschlossene Räume (wie in der hier gezeigten Arbeit aus der vierteiligen Serie "Plattenbau" von 2004), die in der Realität nie so sichtbar sein könnten.

Selbst Gefeller gewinnt diese Aufsichten und Einblicke erst im Verlaufe des Bildmontageprozesses. Während er die Einzelbilder aufnimmt, weiß er noch nicht, wie das Gesamtbild aussehen wird. Doch je mehr sich die Fragmente auf seinem Bildschirm zu einer Einheit, einer "Supervision", fügen, desto höher beginnt er zu "fliegen".

Diese Veränderung des Blickpunktes durch des Künstlers Tun verändert auch unsere gesamte Wahrnehmung eines Raums, verknüpft sie mit ungewohnten, durchaus ambivalenten Gefühlen. Dieser Wirkung seiner Arbeit auf den Betrachter, ist sich Gefeller sehr wohl bewusst. Nicht ohne Grund wählt er für seine Serie einen Titel mit doppeltem Wortsinn: "Supervision" bedeutet im Deutschen "Übersicht", aber auch "Aufsicht" im Sinne von "Überwachung" und "Kontrolle". Der Fotokünstler zeigt damit nicht nur perspektivische Aufsichten, sondern auch inhaltlich, wie der moderne Mensch "beaufsichtigt" wird.

Gewiss findet sich in "Supervisions" aber auch Gefellers unbändiger Drang, Details, die in unserer Alltagswahrnehmung im Verborgenen bleiben, zu hinterfragen, von anderen Übersehenes unter die Lupe zu nehmen und zu thematisieren.

Andreas Gefeller liest die Spuren, die die Gesellschaft hinterlässt, und weckt beim Betrachter Neugier auf die Nutzung und Vergangenheit der abgebildeten urbanen "Lebensräume". Er fordert ihn geradezu heraus, die scheinbar bekannte Welt überraschend anders zu sehen.

Seine Spurensuche betreibt der Fotograf in den Strukturen des städtischen Umfeldes.
Sein Blick "taucht", wie Manfred Zoller über Andreas Gefeller schrieb, "ein in die Raster des Lebens, legt aus der Draufsicht die Matrix der Moderne frei". Diese erscheint zunächst geordnet, voll geometrischer Muster und Raster. Doch wenn wir nun den Blick weg vom Großen auf die Details richten, werden wir - bildlich übertragen auf Gefellers Arbeitsweise - auf "Schritt und Tritt" fündig, stoßen wir auf die zivilisatorischen Spuren, die Menschen hinterlassen haben: auf Müll, auf Abnutzungen und auf Schäden ebenso wie auf - z. T. fast rührende - Zeugnisse individueller Raumgestaltung. Auf die Menschen selbst hat der Künstler verzichtet, über ihre Eingriffe erzählen seine Arbeiten aber viel.

Offensichtlich präsentieren sich Gefellers Spuren in Arbeiten wie "Rennbahn" (2004): Abbildungen auf Zeitschriften oder Wettscheine verweisen auf die Funktion des Ortes. Der Ort selbst, die Tribüne einer Pferderennbahn in Hongkong, spielt mit uns bereitwillig Gefellers perspektivisches Verwirrspiel. Seine Dreidimensionalität ist in der Aufsicht fast vollständig verflacht. Struktur und Zufall, Ordnung und Unordnung - dies ist charakteristisch für die Arbeit des Düsseldorfers - halten sich hier die Waage. Die zufällige Streuung des Weggeworfenen mutet in Verbindung mit der strengen Ordnung der Tribünenstufen wie die Partitur zu einem symphonischen Werk an.

Weitaus schwieriger wird die Spurensuche beispielweise in "Gitter" (2002). Hier müssen wir den Blick schon schärfen, um eingeklemmt über den Tiefen eines Pariser Metro-Schachts einen Zigarettenstummel zu finden, der uns überhaupt erst den Maßstab zum dargestellten Bildausschnitt liefert: die unscheinbare Spur als Größenindikator - wie meist bei Gefeller.

Kurz nachdem der schon erwähnte Berliner Plattenbau "Luise" von seinen Bewohnern verlassen wurde, geben nur noch Abdrücke auf dem Boden einen Hinweis auf das ursprünglich dort befindliche Mobiliar und somit auch auf die Nutzung der Räume durch ihre einstigen Bewohner.
Wie individuell kann man in so einem Bau leben? Welche Gestaltungsspielräume bieten solche Plattenbauten? Beschränken sie sich auf die Wahl des Teppichs? Ist das Gefühl der Geborgenheit in solchen Räumen nur ein vermeintliches angesichts der dünnen Wände, die Privates und Halböffentliches, Schlafraum und Treppenhaus um nicht einmal eine Handbreit voneinander abgrenzen?

Andreas Gefeller beabsichtigt in dieser, wie auch in seinen anderen Arbeiten, kein soziologisches Experiment. Aufdrängen dürfen sich solche Fragen angesichts der fast erdrückenden Tristesse der Aufsichten und Einblicke, die uns Gefeller hier anbietet, aber schon.  

Die verlassenen Räume scheinen es Andreas Gefeller ohnehin angetan zu haben. Orte, von denen man nicht weiß, wie lange sie noch existieren, bevor mit ihnen auch die letzten Verweise auf ihre Vorgeschichte auf immer verschwinden.
Ein solcher Ort ist auch die Düsseldorfer "Büroetage 2" (2007): Hier treibt der Künstler die perspektivische Irritation auf die Spitze, indem er die Blickrichtung seine Objektivs um 180 Grad  schwenkt. So verweigert er dem Betrachter weitere Quellen der Orientierung, wie etwa Türschwellen, legt ihm dafür aber die abgestorbenen Lebensadern des Gebäudes - ein feingliedriges Netz aus Leitungen und Rohrverbindungen - frei, indem er in fotografischer Detailarbeit die Decke "seziert". Hier ist Gefeller der Pathologe, ein anderes Mal der Archäologe, der Fundstellen urbaner Zivilisation eruiert - immer bemüht, zu ergründen, was sich unter der Oberfläche verbirgt. Auch die abgestorbene Vegetation unter dem leuchtend grünen Waldboden oder die verblasste Farbschicht unter dem frisch gesprayten Graffiti erwecken sein Interesse.

Wie kaum eine andere Arbeit legt die in ihrer Entstehung nur schwer nachvollziehbare "Büroetage 2" den Verdacht der Manipulation mit Mitteln der digitalen Fotografie und der digitalen Bildbearbeitung nahe. Dagegen verwehrt sich der Künstler: Er zeige nur die Wirklichkeit, lediglich die Blickwinkel seiner Motive seien nicht wahr. Die erkennbaren Brüche und Übergänge glättet Gefeller mitunter, lässt sie aber bewusst und erkennbar stehen.

Die Gleichzeitigkeit der Aufsicht der Büroetage täuscht über den langen Enstehungszeitraum der Aufnahme hinweg, lassen sie wie eine Momentaufnahme erscheinen. Es gibt nichts im Bild, woran man Zeit festmachen könnte. Ganz anders in einigen seiner jüngsten Arbeiten, allen voran im "Parkplatz" (2007). Durch "Google Earth" ist Gefeller auf den Ort aufmerksam geworden. Auf einem Satellitenbild von Düsseldorf entdeckte er den Ort mit seiner klaren Struktur, gegliedert durch die als Fahrspuren ausgelegten Betonplatten. Die dazwischen stehenden Bäume enttarnen sich beim genauen Blick nicht als Bäume selbst, sondern als deren Schatten, denn die Baumkronen liegen über der Kamera. Während Andreas Gefeller den Ort abschreitet, um Schritt für Schritt eine neue Aufnahme zu machen, geht die Sonne ihren Lauf, verändern sich Richtung und Länge der Schatten,  so dass man daran die jeweilige Urzeit ablesen könnte. Mit dem Fortschreiten der Zeit - das ist deutlich am oberen Bildrand zu sehen - verliert das Tageslicht an Kraft.

Ich darf an dieser Stelle meine Ausführungen beenden. Allerdings nicht ohne sie zuvor auf einen Termin hinzuweisen, auf den wir uns schon sehr freuen: Am Mittwoch, den 4. Juni, wird in diesen Räumen ein Gespräch zwischen Andreas Gefeller und Prof. Stephan Berg, dem ehemaligen Leiter des Kunstvereins Hannover und neuen Intendanten des Kunstmuseums Bonn stattfinden.
Sie sind dazu ganz herzlich eingeladen.

Stephan Berg als wohl profundester Gefeller-Kenner sieht die Arbeiten von Andreas Gefeller als "Reflexionen über die dialektische Struktur von Sehen und Sichtbarkeit überhaupt: Was wir sehen, gibt es eigentlich nicht. Und was es gibt, können wir schon lange nicht mehr sehen."

Vielen Dank!